© G.S.Altshuller, Die Originalausgabe Алгоритм изобретения erschien im Verlag "Moskauer Arbeiter", Moskau 1969. Nach einer Rohübersetzung von Alfred Beckelt ins Deutsche übertragen von Dr. Kurt Willimczik, 1973. PATENTIERT IM PALÄOZOKUM Die Gesamtzahl der Patente, die in der ganzen Welt für Erfindungen erteilt sind, beträgt etwa 12 Millionen. Angenommen, man kann eine Patentbeschreibung innerhalb von 5 Minuten lesen, dann wären, um mit dem Weltpatentfonds bekannt zu werden, 110 Jahre erforderlich.
Es gibt aber auch einen Patentfonds, in dem Erfindungen in einer solchen Zahl enthalten sind, daß es der Menschheit bisher noch nicht gelungen ist, sie umfassend zu ergründen. Das ist der Patentfonds der Natur.
Der Mensch benutzte seit langem Ideen, die von der Natur "patentiert" sind. Es gibt wahrscheinlich Zehntausende von Erfindungen, die direkte Prototypen in der Natur haben. Vorläufig aber haben wir uns jedoch nur einen winzigen Teil der "Erfindungen" der Natur angeeignet und auch nur die, die uns sofort ins Auge sprangen.
Noch vor kurzem herrschte die Meinung, daß in der Technik und in der Natur die gleichen Aufgaben auf verschiedenen Wegen gelöst würden. Tatsächlich sind die technischen Lösungen in den meisten Fällen nicht den Lösungen der Natur ähnlich. Das, was in der Natur leise und gleichsam unbemerkbar vor sich geht, ist in der Technik mit dem Einsatz gewaltiger Temperaturen und Drücke sowie mit riesigem Energieverbrauch verbunden; mit einem Wort, mit "großen Potentialen". Diese "großen Potentiale" erscheinen bei weitem eindrucksvoller als die unscheinbaren Mechanismen irgendwelcher kleiner Insekten. Es galt als Binsenweisheit, daß das Kopieren der Natur abseits von der Hauptentwicklungslinie der Technik liege. Deshalb versuchten die Erfinder bei der Lösung neuer technischer Aufgaben gewöhnlich nicht, Antworten zu nutzen, die bereits von der Natur gegeben waren. Welcher Weg ist nun vorzuziehen? - Traditionelle Technik oder der Weg, nach dem sich die lebenden "Maschinen" der Natur entwickelten?
Vergleichen wir zum Beispiel den Flügel eines Flugzeugs mit dem eines Vogels. Der Flügel eines modernen Flugzeugs ist eine der höchsten Errungenschaften der Technik. Kein Flugzeug kann jedoch mit Vögeln nach der Menge der je Leistungseinheit zu hebenden Last konkurrieren. Wenn die Flügel der modernen Flugzeuge schwingen würden, könnten sie je Motor-PS 120 bis 130 kp Last heben. Vorläufig aber sind die Flügel der modernsten Maschinen nur fähig, ein Zehntel dieses Gewichts überhaupt zu heben.
Besonders groß ist die Überlegenheit der Natur in der Konstruktion von "Kontrollmeßgeräten". Der Grashüpfer verfügt über einen Hörapparat, der Schwingungen auffängt, deren Amplitude gleich dem Radius eines Wasserstoffatoms ist! Es ist nicht verwunderlich, wenn die Schöpfer wissenschaftlicher Geräte als erste zu der Schlußfolgerung kamen, daß es notwendig sei, die Prinzipien, die von der Natur genutzt werden, planmäßig zu erforschen und zu übertragen.
So entstand die Bionik - eine Wissenschaft, die technische Probleme mit Verfahren löst, die der Natur entnommen sind. Anfangs beschäftigte sich die Bionik nur mit dem Modellieren der Sinnesorgane. Jetzt ist ihr Problemkreis bedeutend erweitert worden. Die Bioniker befassen sich mit Aufgaben aus den verschiedensten Gebieten der Technik. Gemeinsam ist nur die Methode der Lösung - die Ausnutzung von Prototypen der Natur. Dem Wesen nach könnte der fünfte Schritt des operativen Stadiums auch folgendermaßen formuliert werden: Man muß an die Lösung der Erfindungsaufgabe von der Position der Bionik aus herangehen. Theoretisch ist hier alles einfach - der Erfinder übernimmt eine fertige Lösung. Praktisch aber muß man, ehe man etwas entlehnt, den passenden Prototyp der Natur finden. Gerade hier zeigt sich aber, daß, obwohl theoretisch völlig unbestritten, dieses Vorgehen praktisch nur in seltensten Fällen gelingt.
In den Seminaren über die Methoden des Erfindungswesens wurden Hunderte von Aufgaben gelöst. Nicht ein einziges Mal jedoch wurden Prototypen aus der Natur als Idee benutzt. Freilich, nach der Lösung der Aufgabe gelang es oft, für die gesuchte Idee einen Naturprototyp zu finden. Das festigte die Überzeugung, daß die Lösung richtig war, aber nicht mehr.
Worum geht es?
Eigentlich hätte das Aufkommen der Bionik sofort eine Sturmflut außerordentlicher Erfindungen auf allen Gebieten der Technik ergeben müssen. Aber vorläufig hat die Bionik nur der Kybernetik Ideen liefern dürfen.
Hier wurde die Bionik zu einem zuverlässigen Kompaß des Forschers. In anderen Zweigen der Technik werden lebende Prototypen der Natur nicht häufiger benutzt als zu den Zeiten, da man statt des Wortes Bionik den Ausdruck Kopieren von Vorbildern der Natur gebrauchte.
Es genügte, einige Bücher und Aufsätze über die Bionik durchzulesen, um die gleichbleibende, außerordentlich bescheidene Auswahl der Beispiele zu erkennen: die Ultraschallorientierung bei Fledermäusen - den "Brummkreisel" (Gyroskop) der Fliegen - die walförmige Gestalt von Schiffen, die von japanischen Schiffbauern kopiert und eingeführt wurde - die Haut des Delphins, die den Bewegungswiderstand des Wassers verringert - das kunstvolle "Ohr der Meduse", das einen Sturm ankündigt. Charakteristisch ist, daß meist zuerst die Erfindung gemacht und dann der in der Natur bereits gegebene Prototyp gesucht wird. So wurde von Kramer bereits im Jahre 1938 das Prinzip eines Verfahrens zur Verminderung des Widerstandes vorgeschlagen, und erst im Jahre 1955 entdeckte der gleiche Kramer, daß die Delphine seine Idee "anwenden".
Stellen Sie sich eine Patentbibliothek vor, in der Milliarden von Patenten auf den Regalen in einer für die Besucher unbekannten Ordnung ausgelegt sind! Gerade so sieht der Erfinder, der an der Lösung einer neuen technischen Aufgabe arbeitet, die Patentbibliothek der Natur.
Eine zuverlässige Methodik für die Auswahl lebender Prototypen der Natur gibt es noch nicht. Deshalb ist es in den meisten Fällen für den Erfinder einfacher, eine eigene Lösung zu finden, als das passende Patent der Natur zu suchen.
Trotzdem schließt das operative Stadium des ARIS den bioni-schen Schritt ein. Es gibt hier zwei Arten des Herangehens, die die Orientierung in dem gigantischen Patentfonds der Natur erleichtern:
1. Es muß ein Prototyp uralter Tierarten gesucht werden; denn die "alten" Patente der Natur sind einfacher und zugleich ausreichend effektiv.
2. Es müssen die allgemeinen Entwicklungstendenzen bei den Patenten der Natur untersucht werden. Eine fertige Lösung zu finden ist sehr schwer. Aber fast immer kann man die Entwicklungstendenzen der Naturanalogien herausfinden.
Sprechen wir über diesen Punkt ausführlicher.
Im alten Griechenland wurde eine für jene Zeiten hervorragende bionische Erfindung gemacht: Rammböcke, mit denen die Tore einer belagerten Festung aufgebrochen wurden, erhielten Rammköpfe in Form von Widderstirnen. Solche Rammköpfe nahmen, wie Historiker bezeugen, die Stoßbelastungen ausgezeichnet auf. Die unbekannten antiken griechischen Bioniker haben bei der Entwicklung ihrer Ramme mit Widderstirnkopf wahrscheinlich so geurteilt: "Es ist erforderlich, daß das Holz beim Stoß nicht splittert und sich nicht zusammenpreßt. Wo haben wir etwas Ähnliches schon gesehen? Auf der Weide! Die Schafböcke stoßen mit ihren Stirnen gegeneinander, und es geschieht ihnen nichts! Ein ausgezeichneter Prototyp, einen besseren kann man sich überhaupt nicht ausdenken..."
Nach dieser Methode wird bis heute die Auswahl lebender Prototypen getroffen. Man bemüht sich, ein möglichst vollkommenes Original der Natur aufzufinden. Angenommen, der Biologe gibt dem Ingenieur einen ausreichend vervollkommneten lebenden Prototyp an. Ist das gut und ausreichend? Nein, denn solche Prototypen sind in der Regel kompliziert. Ihre Bauweise bis ins Detail zu analysieren, ist sehr schwierig, und eine Kopie anzufertigen, ist oft einfach unmöglich.
Gerade so steht es mit den Versuchen, die Delphinhaut zu kopieren. In diesem Patent der Natur bleibt auch heute noch viel Rätselhaftes. Allmählich hat man erkannt, daß der Delphin in seiner Haut über ein feines und kompliziertes Dämpfungssystem verfügt. Die Nervenenden in jedem Punkt der Haut fangen Druckveränderungen auf und übermitteln entsprechende Signale an das Zentralnervensystem, das die Dämpfungsarbeit der Haut reguliert. Praktisch ist es nicht möglich und nicht vorteilhaft, einen solch komplizierten Prototyp zu kopieren.
Bei der Auswahl besonders vervollkommneter Prototypen der Natur benutzen wir - bildhaft gesprochen - die letzten Bände der Patentbibliothek der Natur. Man braucht sich also nicht zu verwundern, daß vieles in ihnen unverständlich ist; denn wir lesen ja das ganze "Werk’’ der Natur von hinten!
Es ist aber für die Lösung der überwiegenden Mehrzahl der Aufgaben durchaus nicht erforderlich, vollkommene, aber zu komplizierte Prototypen zu nutzen. Weit aussichtsreicher ist es, als Prototypen verhältnismäßig weniger vervollkommnete, dafür aber einfachere "Patente" uralter Lebewesen zu verwenden, die durch die Paläontologie erforscht werden.
Die paläobionische Methode erweitert zunächst den Patentfonds der Natur. Unter den heute lebenden Tieren gibt es zum Beispiel keine so großen, wie es der Brontosaurus und die lndricotherien waren. Aber der wichtigste Vorzug der Paläobionik liegt darin, daß sie dem Erfinder bedeutend einfachere und damit leichter nachbildbare Prototypen vorschlägt.
Dazu kann man folgendes Beispiel anführen. Der Erfinder A.M.Ignatjew spielte einmal in seinem Sommerhaus mit einem Kätzchen. Das Kätzchen kratzte ihn, und der Erfinder dachte darüber nach, wie es eigentlich dazu komme, daß die Krallen immer scharf sind. Er beschaffte sich das Gebiß eines Spechtes, eines Eichhorns und eines Hasen, zersägte die Zähne und kam zu der Schlußfolgerung, daß sich diese Zähne durch ihre vielschichtige Konstruktion selbst schliffen. Harte Kernschichten sind von weichen Schichten umgeben. Während der Arbeit werden die harten Schichten stärker belastet als die weichen. Dadurch verändert sich der ursprüngliche Schärfewinkel nicht. Dieses Prinzip gab Ignatjew den Gedanken der selbstschärfenden Schneidwerkzeuge ein.
Der Erfinder - und das ist typisch! - suchte nach vollkommenen Prototypen. Deshalb erwies sich das von ihm benutzte Patent der Natur als kompliziert, und die selbstschärfenden Schneidorgane fanden nur eine begrenzte Anwendung.
Die von Ignatjew benutzten Prototypen sind völlig uninteressante Nagetiere im Vergleich zu einigen Dinosaurierarten. Die großen Dinosaurier wogen mehrere Dutzend Tonnen und lebten manchmal bis zu 150 und 200 Jahren. Man kann sich leicht vorstellen, welche Mengen von Futter ihre Zähne im Verlaufe ihres Lebens zermahlen haben.
Besonders bemerkenswert sind die Zähne von Saurolophen, eine Art mit Hufen versehener Dinosaurier. Bei den Saurolophen saßen in jeder Zahnreihe jeweils drei Zähne übereinander. Dreifache Bohrkronen gibt es in der Technik vorläufig noch nicht. Aber es werden bereits Versuche mit doppelten Kronen durchgeführt (man nennt sie Kronen mit vorrückenden Schneiden). Das Bohrtempo erhöht sich bei solchen Kronen auf das Anderthalbbis Zweifache.
Eine weitere Besonderheit des den Saurolophen eigenen Patents besteht darin, daß die Schneidorgane ununterbrochen wachsen, und sich nacheinander auswechseln. Dieses Prinzip ist außerordentlich interessant. Bis jetzt liefen die Bemühungen der Erfinder, welche die Bohrtechnik vervollkommneten, auf gewohntem Wege: "Wenn die Bohrzähne stumpf geworden sind, muß der Bohrer so schnell wie möglich herausgezogen und ausgewechselt werden.’ Es existieren Hunderte von Erfindungen darüber, wie man die Bohrer schnell herausziehen kann. Vom Standpunkt der Bionik aus gesehen muß man einen anderen Weg einschlagen, und zwar die Zähne verschleißfester machen, zum Beispiel durch Selbstschärfen. Der Saurolophus zeichnet eine noch interessantere Lösung vor: die Bohrzähne sind in mehreren Reihen anzuordnen. Jede Reihe ruht auf einer weichen Unterlage. Wenn die Zähne der ersten Reihe abgenutzt sind, wird die weiche Unterlage durch den rotierenden Meißel innerhalb einiger Umdrehungen zerstört. Der Meißel senkt sich, und es tritt die zweite Reihe der Zähne in Aktion. ("Es wachsen neue Zähne."’)
Abb. 24: Zweistufige Bohrkrone (Urheberschein Nr. 161008, russ.)
Vor ganz kurzer Zeit wurde den sowjetischen Erfindern Ju. Buschtedt, A. Atjakin. L. Latschijan und N. Litwinow der Urheberschein Nr. 161008 für eine zweistufige Bohrkrone erteilt (Abb. 24). Die Definition dieser Erfindung wiederholt sehr exakt das alte "Patent" der Echse: "Eine zweistufige Bohrkrone, die aus dem Körper und zwei Stufen von Schneiden besteht. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß in ihr, zum Schütze der Schneiden der oberen Stufe gegen Zerstörung bei Beginn des Arbeitseinsatzes, als zeitweilige Schneideunterlage unter der unteren Stufe ein dämpfendes Kissen aus weichem Material unterlegt ist." [52]
Die heutigen Lebewesen sind bedeutend kleiner als die Dinosaurier. Sie sind nicht so gefräßig und kommen mit einem Satz Zähne aus (die manchmal im Verlaufe ihres ganzen Lebens wachsen). Nur die Elefanten haben Wechselzähne, die einstmals von den Saurolophen "patentiert" wurden. Noch einige Beispiele:
Die Schwertschwänze kann man heute nur noch an den Ostküsten Nordamerikas und Asiens als Pfeilschwanzkrebse finden. Diese Krebse waren Zeitgenossen nicht nur der Dinosaurier, sondern auch in nächster Nachbarschaft, der Trilobiten, die bereits im Paläozoikurr ausgestorben waren. Ungeachtet der ständig sich verändernden Lebensbedingungen erlitt der Schwertschwanz innerhalb von 200 Millionen Jahren fast keine Veränderungen und lebt als Pfeilschwanzkrebs noch in unseren Tagen.
Interessant aber ist nicht nur, daß dieser Pfeilschwanzkrebs ein lebendes Fossil ist. Von besonderem Interesse sind seine Augen. Er hat zwei große kompliziert gebaute Augen, die an der Seite des Panzers angeordnet sind, und zwei kleine Augen vorn. Jedes Auge besteht gleichsam aus einer Vielzahl einzelner Linsen. Die Augen des Pfeilschwanzkrebses sind sehr empfindlich. Und dieser Umstand war den Gelehrten lange Zeit ein Rätsel, da dieser Krebs ein Nachtleben führt und sich den größeren Teil des Tages im Sande vergräbt.
Durch ein langes Studium der Augen des Pfeilschwanzkrebses gelangte der amerikanische Wissenschaftler Hartline zu einer interessanten Entdeckung. [53] Es stellte sich heraus, daß die Zellen der Sehnerven des Tieres über Kreuz verbunden sind. Wenn beim Pfeilschwanzkrebs nun eine Zelle seines Sehnervs gereizt wird, wird automatisch eine andere gebremst. Auf diese Weise ergibt sich auf der Netzhaut ein deutliches Kontrastbild.
Diese Entdeckung führte dazu, ein Fernsehsystem mit außerordentlicher Kontrastdarstellung zu schaffen, das zum Beispiel die Übermittlung von Fotos anderer Planeten auf die Erde wesentlich beeinflußt hat.
Weitere Untersuchungen ergaben, daß die Augen des Tieres ultraviolette und infrarote Strahlen auffangen, die für den Menschen unsichtbar sind. Außerdem entdeckte der amerikanische Forscher Waterman, daß der Pfeilschwanzkrebs auch polarisiertes Licht empfängt, wodurch es dem Tier möglich ist, sich zu orientieren, wenn weder Sonne noch Sterne leuchten.
Die Untersuchungen werden fortgesetzt, und es ist nicht ausgeschlossen, daß die Augen des Pfeilschwanzkrebses noch als Prototypen für weitere komplizierte elektronische Geräte dienen werden.
Die urzeitlichen Tiere stehen in der Regel den heutigen in der Entwicklung des Gehirns und des Nervensystems nach. Im übrigen sind sie ausreichend vervollkommnet und können der Technik als Vorbilder dienen. Ja noch mehr, in einer Reihe von Fällen übertreffen die ausgestorbenen Tiere ihre heute lebenden Nachkommen "in jeder Weise". Jene Lebewesen sind nicht deshalb ausgestorben, weil sie schlecht "konstruiert" gewesen wären. Sie sind aufgrund von Veränderungen des Klimas und der Erdoberfläche ausgestorben, und in einigen Fällen sind sie durch den Menschen ausgerottet worden.
Es muß bedacht werden, daß die Begriffe "vollkommen" und "unvollkommen" außerordentlich relativ sind. Das, was vom Standpunkt der Natur aus unvollkommen ist, erweist sich oft vom technischen Standpunkt aus als vollkommen. Die Flügel der fliegenden Saurier, der fliegenden Echsen, waren unvollkommen im Vergleich zu den Flügeln des Vogels, da die kleinste Beschädigung der Flughaut den Flug behinderte. Die moderne Technik hat jedoch ein anderes Arsenal von Werkstoffen zur Verfügung. Mit diesen Materialien ist es nicht zweckmäßig, die Vogelflügel von heute zu kopieren, deren genauer Funktionsprozeß sich immer noch nicht vollständig enträtseln läßt, wohl aber die glatten Flügel solcher ausgezeichneten Flieger wie des Rhamphorhyn-chus oder der heute noch lebenden, über einen alten Stammbaum verfügenden Libelle.
Viele der ausgestorbenen Lebewesen sind gut erforscht. Zähne von Dinosauriern gibt es zum Beispiel fast in jedem naturkundlichen Museum. Aber die paläobionische Methode verbietet durchaus nicht, als Prototypen auch heute lebende Tiere zu nehmen. Man sollte nur nicht die am meisten vervollkommneten, sondern ältere Prototypen auswählen.
Die Bionik erreichte gerade dann überzeugende Ergebnisse, wenn unbewußt vorzeitliche Tiere als Prototyp genutzt wurden. So ergab die Bionik als praktisches Arbeitsergebnis unter anderem ein Gerät, das nach dem "Infraohr" der Meduse aufgebaut ist. Die Medusen aber gehören zu den ältesten Lebewesen, sie schwammen schon in den Kambrischen Meeren.
Auch die japanischen Schiffbauer, die den Wal kopierten, haben im wesentlichen ihren Erfolg der unbewußten Anwendung der Paläobionik zu verdanken; denn lange vor den Walen hatten die Ichthyosaurier (Stenopterygier, Eurhinosaurier) die gleiche Körperform. Oder das Retinotron (ein Gerät, das fähig ist, nur sich bewegende Gegenstände zu "erkennen"), das als Nachbildung eines Froschauges gilt. Die Priorität dieser Erfindung aber hat der Tyrannosaurus.
Noch ein Beispiel dafür, daß urzeitliche Tiere eine komplizierte Aufgabe mit einfachen Methoden lösten, ist die Antiflattervor-richtung der Libelle. Diese Vorrichtung ist sehr einfach. Am Ende der vorderen Flügelkante ist eine Chitin-Verstärkung vorhanden - ein Pterostigma, das die schädlichen Schwingungen des Flügels löscht. Ingenieure sind selbständig auf die gleiche Idee gekommen. Es genügte, in einen Flügel (an der Stelle, wo sich bei der Libelle das Pterostigma befindet) ein Bleigewicht einzulöten, um die Gefahr des Flatterns zu bannen.
Jetzt ist aber noch folgendes interessant: Die jüngsten und schnellsten neuzeitlichen Libellenarten besitzen keine Pterostig-men mehr. Hätten wir also die vervollkommneten Prototypen gewählt, wäre das "Patent" des Pterostigmas unerkannt geblieben, denn dieses Stigma ist nur bei solchen "veralteten Konstruktionen" wie zum Beispiel den Netzflüglern vorhanden. Überhaupt kann man, wenn man die lebenden Prototypen in ihrer naturgeschichtlichen Entwicklung betrachtet, feststellen, daß häufig ein "Patent" durch ein anderes ersetzt wird.
Die Urschwimmkäfer hatten eine tropfenförmige Körperform. Ihre Nachfahren jedoch gaben diese in der Technik traditionell gewordene Form auf. Die Körper der heutigen Schwimmer sind in ihrem vorderen Teil schmal, im hinteren Teil werden sie breiter. Wahrscheinlich ist das eine sehr wirksame Form. Durch Versuche wurde festgestellt, daß sich, sobald man zwei winzige Auswüchse am breiteren Teil des Körpers entfernt, der Bewegungswiderstand auf 122 Prozent erhöht. Es ist paradox: die Querschnittsfläche des "Rumpfes" wird kleiner, aber der Widerstand wächst.
Abb. 25: Entwicklung einer Konstruktion in der Natur und in der Technik: A - So entwickelte sich die Flügeldecke eines Käfers. B - So wurde die Konstruktion der Überdachung von Gebäuden vervollkommnet.
Der fünfte Schritt des operativen Stadiums des ARIS empfiehlt dem Erfinder daher nicht nur, einen vorgeschichtlichen Prototyp zu finden, sondern auch die Entwicklungsrichtung der "Natur-Konstruktionen" festzustellen. Es muß ermittelt werden, weshalb und wie die Natur den einen oder anderen Prototyp korrigierte. Der Paläontologe A. G. Ponomarenko führte in einem Brief an mich ein interessantes Beispiel einer solchen Analyse an (Abb. 25 A). "Bei der Schaffung der Flügeldecken eines Käfers", schreibt Ponomarenko, "hatte die Natur die Aufgabe, eine leichte, feste und unnachgiebige Überdachung zu entwickeln. Die Etappen dieser Entwicklung sind folgende:
1. ein dünnes Blättchen, bewehrt mit unregelmäßig angeordneten Längsröhrchen;
2. die Röhrchen werden längs des Blattes ausgerichtet;
3. die Anzahl der Röhrchen vermindert sich, und die restlichen verwandeln sich in starre Rippen;
4. die starren Rippen werden an ihrem Oberteil breiter;
5. die Oberteile der Rippen fließen zusammen, es ergibt sich eine Rahmenkonstruktion mit Hohlkörpern.
Diese Konstruktion ist leicht und sehr fest."
Abbildung 25 B zeigt die Entwicklung der Überdachung von Gebäuden. Es ist leicht festzustellen, wieviel Gemeinsames in der Entwicklung der beiden Konstruktionen - der der Natur und der vom Menschen geschaffenen - vorhanden ist. Die Übereinstimmung ist natürlich nicht zufällig. Die Ziele sind die gleichen (Leichtigkeit, Festigkeit). Deshalb sind auch die Lösungen ähnlich. Im ARIS-68 ist der bionischen Methode eine verhältnismäßig bescheidene Rolle zugesprochen. Aber die Bionik entwickelt sich schnell. Die Zahl der veröffentlichten Arbeiten wird größer. Allmählich werden die "Patente" der Natur entschlüsselt, und es werden allgemeine Prinzipien gefunden, mit denen die Natur ihre Erfindungsaufgaben löst.
Wahrscheinlich wird man schon in den nächsten Jahren diesen Teil des Algorithmus wesentlich vervollkommnen können. Dann wird der Algorithmus durch eine außerordentlich effektive Tabelle ergänzt werden, die anzeigt, wie der eine oder der andere Widerspruch nach den "Patenten der Natur" beseitigt wird.
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